Anpassungsstörungen: Wenig beachtet und kaum untersucht
Die Diagnose Anpassungsstörung wird häufig nur als Restkategorie verwendet. Die hohe Suizidalität und die häufige Dauer über sechs Monate hinaus, geben Anlass zur besseren Erforschung der Erkrankung.
Menschen unterscheiden sich darin, wie gut sie Schicksalsschläge verkraften. Den einen gelingt die Bewältigung aus eigener Kraft und ohne negative Folgen. Andere wiederum verharren in Leid und Trauer, zu denen häufig depressive und ängstliche Reaktionen, Konzentrationsschwierigkeiten, Störungen des Sozialverhaltens, Genussmittelmissbrauch und Suizidgedanken hinzukommen. Symptome dieser Art werden als „Anpassungsstörung“ diagnostiziert, sofern sie nach belastenden Lebensereignissen von nicht außergewöhnlichem oder katastrophalem Ausmaß auftreten. Bei den Lebensveränderungen kann es sich um Schulbeginn, Verlassen des Elternhauses, Heirat, Elternschaft oder Pensionierung handeln. Zu den belastenden Lebensereignissen werden Trauerfälle, Trennungserlebnisse, Emigration, Flucht sowie Schwierigkeiten in Beziehungen und am Arbeitsplatz gezählt. Eine Anpassungsstörung kann darüber hinaus nach schwerer körperlicher Erkrankung auftreten, beispielsweise nach Krebserkrankung, Unfällen und Herzoperationen.
Bei der diagnostischen Einordnung der Symptome müssen zunächst organische Erkrankungen sowie andere spezifische psychische Störungen, wie etwa Major Depression, Dysthymie oder Angststörung, als Ursachen ausgeschlossen werden. Zudem ist die Dauer zu berücksichtigen. Eine Anpassungsstörung tritt laut ICD-10 und DSM-IV nicht länger als sechs Monate ab Beendigung des belastenden Ereignisses auf. Darüber hinaus muss ein identifizierbarer Auslöser vorhanden sein. Eine normale Reaktion wie etwa unkomplizierte Trauer nach einem Todesfall wird noch nicht als Anpassungsstörung gewertet. Extreme kurz- und langfristige Reaktionen, die nach Unfällen, Gewalttaten oder Naturkatastrophen auftreten, werden ebenfalls nicht als Anpassungsstörung, sondern meistens als akute Belastungsreaktionen oder posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Die Diagnose „Anpassungsstörung“ stellt damit eine Restkategorie dar, in die Fälle eingeordnet werden, deren Symptome für eine Hauptkategorie zu schwach oder zu kurz ausgeprägt sind oder nur unvollständig vorhanden. Mit dem Status einer Restkategorie geht das Problem einer theoretischen und diagnostischen Unschärfe einher, die dazu ausgenutzt werden kann, um ein Rentenbegehren zu verschlüsseln oder um psychische Auffälligkeiten zu dokumentieren.
Auf die Restkategorie „Anpassungsstörung“ wird in klinischen Stichproben relativ häufig zurückgegriffen. So werden je nach Patientengruppe Prävalenzraten von fünf bis 30 Prozent berichtet. In der allgemeinen Bevölkerung finden sich Anpassungsstörungen hingegen selten. Etwa 0,6 Prozent der Frauen und 0,3 Prozent der Männer sind von einer Anpassungsstörung betroffen, meistens in Verbindung mit einer depressiven Symptomatik. Möglicherweise sind Anpassungsstörungen in der Bevölkerung weiter verbreitet als bisher bekannt. Es fehlen jedoch empirische Daten, um diese Vermutung zu belegen.
Ätiologie kaum bekannt
Anpassungsstörungen gelten ohnehin als wenig erforscht. „Unklar ist beispielsweise die Stabilität der Diagnose über die Zeit, da hierzu widersprüchliche Befunde vorliegen“, sagen Priv.-Doz. Dr. med. Ulrich Frommberger aus Offenburg sowie Prof. Dr. Dr. Jürgen Bengel und Dr. phil. Heide Hecht von der Universität Freiburg. Zudem ist so gut wie nichts über die Ätiologie einer Anpassungsstörung bekannt. Vermutet wird, dass mehrere Faktoren zusammenwirken, beispielsweise auslösende Lebensereignisse, individuelle Risikomerkmale, Umweltfaktoren sowie genetische Faktoren. Wie diese Faktoren im Einzelfall zusammenspielen, wurde jedoch noch nicht untersucht. Zu wenige Erkenntnisse gibt es auch über die Chronifizierung der Störung. In manchen Fällen kommt es nämlich nicht zur Spontanremission nach sechs Monaten, sondern die Störung persistiert, oder es treten Rückfälle auf. Darüber hinaus ist ungeklärt, inwieweit eine Anpassungsstörung mit einer depressiven Symptomatik einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Major Depression darstellt. Ein Grund für die unbefriedigende Befundlage stellt die geringe Spezifität der Symptomatik dar. Weitere Gründe liegen in der hohen Komorbidität belastungsreaktiver Störungen, in der schlecht untersuchten Reliabilität und Validität, in der fraglichen differenzialdiagnostischen Abgrenzung zu anderen Kategorien sowie in der Nachrangigkeit der Restkategorie „Anpassungsstörung“.
Psychotherapeutische Verfahren, die speziell zur Behandlung von Anpassungsstörungen eingesetzt werden können, gibt es nicht. Die Gruppe der Patienten mit einer Anpassungsstörung ist außerdem sehr heterogen. Darüber hinaus existieren kaum Studien, in denen die Effektivität einer medikamentösen oder psychotherapeutischen Behandlung evaluiert wurde. Deshalb müssen die therapeutischen Interventionen an den Einzelfall angepasst und bewährte Verfahren herangezogen werden, zum Beispiel Techniken, die im Rahmen von Kriseninterventionen greifen. Dazu gehören etwa eine kurzfristige Pharmakotherapie zur Entlastung sowie Psychotherapie, die zunächst Schuldgefühle, Ängste, Feindseligkeiten oder emotionalen Druck abbauen hilft. Im weiteren Verlauf werden Bewältigungsstrategien erarbeitet, Ressourcen zur Problembewältigung mobilisiert und die Motivation des Patienten gestärkt. In weniger akuten Fällen können unter anderem verhaltenstherapeutische und kognitive Verfahren eingesetzt werden, um aufrechterhaltende Bedingungen oder dysfunktionale Gedanken zu verändern, Bewältigungsstrategien zu aktivieren und den Patienten wieder handlungsfähig zu machen. Wichtig ist es, gleich zu Beginn positive Verhaltensweisen und Merkmale des Patienten zu fördern, die dann für einen Veränderungsprozess mobilisiert werden können und das Selbstwertgefühl schnell verbessern. Besonderen Vorrang hat die Behandlung suizidalen Verhaltens. Da Patienten mit Anpassungsstörung oft stärker selbstmordgefährdet sind als Patienten mit anderen psychiatrischen Diagnosen, ist der Klärung des Suizidrisikos besondere Beachtung zu schenken.
Gesprächstherapie hilfreich
Wie eine aktuelle Studie belegt, kann auch Gesprächspsychotherapie bei Anpassungsstörungen wirksam sein. Im Rahmen der Studie wurden 31 Patienten mit Gesprächspsychotherapie nach Rogers behandelt, die auf zwölf Stunden begrenzt war. Sowohl die Patienten der Behandlungsgruppe als auch die der Wartegruppe hatten eine Anpassungsstörung als Reaktion auf den Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder infolge eines Leistungsversagens im Studium bzw. Beruf entwickelt. Beim anschließenden Vergleich zeigte sich, dass sich bei den behandelten Patienten sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdbeurteilung signifikante Verbesserungen eingestellt hatten. Diese Effekte blieben auch über die folgenden drei Monate hinweg stabil. „Eine auf zwölf Stunden begrenzte Gesprächspsychotherapie stellt für die meisten Patienten mit Anpassungsstörungen eine ausreichende Hilfe dar“, meint Dr. Astrid Altenhöfer vom Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Einsatz von Medikamenten
Die Effektivität einer psychopharmakologischen Behandlung wurde bislang kaum evaluiert. Zudem ist in Deutschland kein Medikament für die Indikation „Anpassungsstörung“ zugelassen. Dennoch werden in der Praxis viele Substanzen zur medikamentösen Behandlung eingesetzt. Auf der syndromalen Ebene besteht für eine Vielzahl von Medikamenten die Möglichkeit, sie bei depressiven oder Angstsyndromen, wie sie auch bei der Anpassungsstörung auftreten, anzuwenden. Unter sehr weit gefassten Begriffen wie „psychovegetative Störungen“, „depressive Verstimmungszustände“, „Angst und/oder nervöse Unruhe“ oder „nervöse Erschöpfungszustände“ werden unter anderem Johanniskrautpräparate verschrieben. Bei vielen Antidepressiva werden als Anwendungsgebiete „depressive Symptome unabhängig von ihrer nosologischen Einordnung“ oder „alle Formen des depressiven Syndroms“ angegeben. Darüber hinaus sind viele Benzodiazepine für die symptomatische Behandlung von akuten und chronischen Spannungs-, Erregungs- und Angstzuständen zugelassen.
Nach aktuellem Stand ist die Wahrscheinlichkeit einer Remission relativ hoch. Klinischen Studien zufolge remittieren Patienten mit einer Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik schneller als Patienten mit einer Major Depression. Ihre stationären Aufenthalte sind kürzer, und es treten auch seltener Rückfälle auf. Dennoch wird immer wieder beobachtet, dass viele diagnostizierte Anpassungsstörungen länger als die erwarteten sechs Monate dauern. Diese Beobachtung sollte ebenso wie die hohe Suizidalität dazu Anlass geben, Anpassungsstörungen und deren Behandlung in Zukunft besser zu erforschen.
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